Der erste Schnee.
Eigentlich macht mich der Herbst zwiespältig. Die Farben, welche die ersten kalten Nächte über die Wälder hauchen, sind wunderschön – doch sie machen auch Vergänglichkeit anschaulich.
Die Bäume tun natürlich etwas Anderes als wir Menschen im Herbst unseres Lebens: Sie speichern ihre Lebenskraft in ihren Wurzeln.
Und das ist uns Menschen nicht möglich. Unsere Wurzeln liegen in der Vergangenheit; sie werden unser Wissen, unser Können nicht wirklich aufbewahren für ein neues Werden und Wachsen. Wir Menschen können unser gelebtes Leben nur in die Zukunft tragen. Die Farben, die uns das Altern bringt, sind – wenn überhaupt – nur in unseren Kindern zu erhalten und zu neuem Wachsen und Werden zu bringen.
Doch verlasst euch nicht darauf! Der Baum weiß, dass er mit der Sonne und Wärme des Frühlings zu neuer Kraft findet und wieder Blätter, Blüten und Früchte tragen wird. Unsere Kinder hingegen sind wie neue Bäume, an einem anderen Ort, lebend unter oft ganz anderen Bedingungen als wir Eltern gelebt haben. Welchen Weg werden sie gehen? Empor zum Licht sich strecken oder doch lieber die Hecke bleiben, die sich dem Willen der Umgebung anzupassen hat. Wer weiß?
Wir Menschen sind eher wie die Bäume, die Nadeln tragen. Vielleicht werfen wir diese oder jene Nadel ab, doch das Kleid werden wir nicht wechseln, selbst wenn es dasselbe ist wie im letzten Jahr. Nur die Äste werden mit der Zeit kahler, die Rinde schrundiger und vielleicht wird das Mark an dieser oder jener Stelle von Fäulnis oder Krankheit befallen.
Doch lassen wir die dunklen Gedanken!
Die überzuckerten Berge, die weißen Wälder in diesen Höhen haben auch eine Botschaft in sich: Ruht euch aus! sagen sie; gebt euch keine Mühe, den Lauf der Zeiten aufhalten zu wollen! Bedenkt, dass alles Leben auch Zeiten der Ruhe braucht, Zeiten zur Erholung und zum Sammeln neuer Kraft für die kommende Zeit der Sonne und der Wärme.
Mir fällt da eben ein Gedicht ein, geschrieben von Hermann Hesse, welches ich vor langer Zeit einmal auswendig gelernt habe. Ich muss es heute abschreiben, denn es ist meinem Gedächtnis abhanden gekommen:
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
Es sind viele Jahre vergangen, seit ich die letzte Wanderung im Winter unternommen habe: Mit Rucksack, Schlafsack, Zelt und Fertigsuppe (ich werde die Marke nicht nennen, nur soviel – es ist nicht DIE Marke!). Es waren wunderbare Erfahrungen; die Ruhe in der Natur teilten sich in diesen Umgebungen so unmittelbar mit wie es sonst kein anderer Urlaub oder eine Wanderung im Sommer zu erreichen vermochten, so dass ich die Fährnisse des Alltages viel leichter abtun konnte. All die Menschen, welche die Einsamkeit der Berge als Event missbrauchen, sind in ihren warmen Wohnungen oder auf irgendwelchen Schipisten unterwegs, die letzten Endes auch nur Events sind.
Und diese Wanderungen waren auch eine Unmittelbarkeit des Seins. Wusste ich, ob ich wieder heil nach Hause kam? Die Gefahren in Schnee und Kälte, die unvorhersehbaren Gegebenheiten im Gebirge waren immer evident.
Nun betrachte ich die weißen Gebirgshöhen von unserer Terrasse aus und empfinde ebenso ein Wenig der Ruhe und Gelassenheit wie damals, als der heiße Tee und die frisch zubereitete Suppe die Strapazen der Wanderung verblassen ließen.
Und damit werde ich den Platz auf der Terrasse verlassen, meine Teetasse nehmen und wieder in die Wärme des Zimmers verschwinden…
Bild: © A. J. R. K. Privat