Der Zauberlehrling

Der Junge stand vor der Tür und schaute mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund. Die geschnitzten Figuren schienen sich zu bewegen; die vielfältigen Linie woben sich ineinander, um immer neue Bilder entstehen zu lassen.

Besonders eine Gestalt erfüllte ihn mit Furcht: Ein unglaublich hässlicher Faun, krumm und verwachsen, mit einem Gesicht, welches an einen Ziegenbock mit menschlichen Zügen erinnerte. Dieser Faun hatte zwar keine Hörner, dafür aber an jeder Hand einen Finger zuviel. Warum ihm gerade diese Hände mit diesem einen Finger zuviel solches Unbehagen bereiteten, konnte er lange Zeit nicht verstehen.

Eines war ihm allerdings auch sehr deutlich aufgefallen: Er hörte die Krähen nicht mehr, welche die Kinderfresserin ihm nachgeschickt hatte, als er sie überwältigte und fliehen konnte. Seit er den schmalen Weg im Wald gefunden hatte, war ihr Geschrei immer schwächer geworden und schließlich verstummt.

Er wusste nicht, wie lange er vor dieser Tür gestanden hatte. Die Sonne war hinter den nahen Bergen fast untergegangen und das Licht in diesem Tal wurde schon fahl. Mit einem Mal merkte der Junge, wie sich die Tür öffnete. Er sprang erschrocken ein paar Schritte zurück, als ein alter Mann im Türrahmen erschien. Er hatte eine Bart, der ihm bis fast an den Gürtel reichte und der sauber in drei sorgfältig geflochtenen Zöpfen endete. Sein Kopf hingegen war so kahl, als wäre dort noch nie ein Haar gewachsen.

„ Komm herein, mein Junge; die Nächte hier im Wald sind kühl. Und ich weiß, dass der Weg durch diesen Wald lang und schwierig war und du gewiss Hunger und Durst hast.“

Der Junge stand starr und schaute den alten Mann voller Angst an. Als der Alte seine Hand ausstreckte und auf in zu trat, wollte der Junge einfach nur fliehen.

Es ging nicht!

Panik ergriff ihn; doch was er auch versuchte – er konnte seine Beine, seine Arme, seinen ganzen Körper einfach nicht bewegen. Er wusste, dass er diesem Mann vollständig ausgeliefert war.

„Du musst keine Angst haben, mein Junge. Ich habe die Krähen gehört und weiß deshalb, vor wem du geflohen bist. Ich bin kein Kinderfresser; ich bin ein Zauberer, aber einer, der den Menschen Hilfe und nicht Gefahr und Tod bringt.“ Er sah den Jungen freundlich an und lächelte.

„Du bist verstört, du kannst dich nicht mehr bewegen, du möchtest einfach nur davonlaufen. Doch zum Davonlaufen ist jetzt keine gute Zeit. Die Kinderfresserin, der du – auf welche Weise auch immer – entkommen bist, wird dich suchen. Und ob du sie noch einmal überwältigen kannst, ist nicht gewiss.“

Der Junge wunderte sich immer mehr, als er die Worte des Alten hörte. Wodurch wusste er von seinem Kampf mit der Kinderfresserin? Wie kam er dazu, ihn vor ihr zu warnen, obwohl er sie ganz leicht überwunden hatte? Und warum – um aller Mächte Willen – bannte er ihn hier fest, sodass er nicht einmal eine Chance hatte, zu fliehen und sich zu verstecken?

Der Alte setzte sich auf die Bank, welche neben der Haustür stand, mit einem Tisch, dessen Platte aus fein gehobelten und geschliffenen Erlenbrettern gefertigt war. Die Kanten hatte der Schreiner mit mystischen Zeichen versehen, deren Bedeutungen dem Jungen völlig unbekannt waren und ihm Unbehagen bereiteten.

„Komm, setz dich zu mir, wenn du schon nicht ins Haus kommen willst. Es ist Zeit fürs Abendessen und einen guten Krug Wein.“

Wie sollte der Junge dieser Aufforderung nachkommen, konnte er doch nicht einmal einen Finger rühren, geschweige denn seine Beine.

„Komm ruhig, es geht schon! Du solltest nur den Gedanken an Flucht in dir zum Schweigen bringen. Ich lasse dich nicht weg, denn ich habe keine Lust, mit meinen alten Beinen in der Nacht in den Wald zu laufen um dir zu helfen. Und meine Freunde hier, die du noch kennenlernen wirst, haben andere Aufgaben. Außerdem helfen sie nicht gern denen, die sie seit undenklichen Zeiten jagen und versklaven. Hör in dich hinein!“

Die Gedanken des Jungen überschlugen sich; es wurde Nacht, und er hatte Hunger und einen unglaublichen Durst. Und ob er mit Wölfen und Bären, von denen er wusste, dass sie in diesen Wäldern lebten, so leicht fertig werden würde wie mit der Hexe, war wirklich nicht sicher.

Er sammelte all seine Kraft und sagte in seinem Kopf: „Ja, ich bleibe!“. Sofort spürte er, wie die Steifheit aus seinen Gliedern verschwand und die Kraft wieder kam. Vorsichtig machte er einen Schritt zum Tisch, und er als fühlte, dass es kein Trug war, ging er und setzte sich neben den Alten.

„Bleib sitzen, mein Junge, und lauf nicht davon. Es ist Ernst mit der Gefahr, auch wenn um dieses Haus ein gewisser Schutz besteht. Und wundere dich nicht über manche Dinge, die gleich geschehen werden.“

Der Alte stand auf und ging zurück ins Haus, derweil der Junge sich umschaute und immer wieder davon überzeugte, dass seine Hände und Arme, seine Beine und Füße nicht wieder steif wurden. Doch das Überraschendste für ihn war, dass seit seinem Versprechen, zu bleiben, Gedanken ans Aufstehen und Weglaufen in seinem Kopf keinerlei Gestalt annehmen wollten, sosehr er es auch versuchte. Nach kurzem, heftigem Kampf in seinen Gedanken wurde er ruhig und wartete geduldig, welche Dinge denn da nun geschehen sollten.

Und da geschahen sie auch schon.

Der Alte trug einen kleine unscheinbaren Tisch mit zerkratzter Platte – die allerdings recht sauber aussah – und schäbigen, zerstoßenen Beinen und stellte ihn neben die Bank. Als er ein paar unverständliche Worte gemurmelt hatte, erhoben sich aus der Platte ein Korb mit schwarzem und weißem Brot, Brettchen mit Käse und Schinken, ein Teller mit aufgeschnittenen Äpfeln und ein einfacher brauner Tonkrug mit zwei Bechern.

„Der Wein ist nicht stark; es ist etwas Wasser darin, damit du ihn auch trinken kannst.“ Er füllte die Becher und schob einen dem Jungen zu. Der starrte mit großen Augen das Tischchen an. „Greif zu und iss! Das Tischchen kann noch mehr bringen.“

Es gab auch im Haus des Jungen zuweilen Wurst, Fleisch und ganz selten weißes Brot, doch nur für den Vater und die erwachsenen Brüder; die Mutter musste mit ihm bei den Gesellen, den Mägden und Knechten essen.

Der Junge starrte auf das weiße Brot im Korb, doch wagte er nicht, davon zu nehmen. Es war eine Leckerei, die er schon sehr lange nicht mehr gegessen hatte. Der Alte lächelte ihn an. „Hab keine Angst, mein Junge und nimm dir, was du magst. Niemand neidet dir das weiße Brot. Besser ist das Schwarze; doch das wirst du später noch verstehen.“

Und wie der Alte sagte: Es war immer genügend Käse und Schinken auf den Brettchen, Äpfel auf dem Teller und Brot im Korb.

Auf die unausgesprochene Frage des Jungen sagte der Alte: „Nein, es ist kein Tischlein-deck-dich, Das gibt es wirklich nur einmal, und es wurde gefunden. Das hier hilft mir nur, das Essen aus der Küche hier an diesen Tisch zu bringen. Eine kleine Hilfe für einen alten Mann, der gerne in der Sonne sitzt.“

Also aßen sie gemächlich und der Junge nahm den alten Mann beim Wort und bediente sich ausgiebig. Es war für ihn ein ungewöhnlicher Festtag. Und als der Junge dachte: „Ein Glas Milch hätte ich doch lieber als den Wein“, stand der Alte auf, ging ins Haus und kam mit einem Glas köstlicher frischer Milch zurück.

„Woher wisst Ihr von der Milch?“

„Nun – du hast sie dir doch gewünscht!“

Der Junge schaute den Alten verständnislos an. „Aber ich habe es doch nicht gesagt, nur gedacht!“ stammelte er verstört.

„Weißt du, mein Junge, es ist leicht, die Gedanken der Menschen zu erfahren, wenn sie nicht die Kraft haben, diese in ihrem Geist zu verschließen. Doch auch das sollst du noch lernen.“

„Aber – Herr – warum musstet Ihr jetzt die Milch selbst holen? Kann das Tischlein das nicht auch tun?“

Der Alte meinte: „Das musste ich schon selbst tun; denn nur das, was ich in der Küche vorbereitet hatte, konnte das Tischlein hier heraus bringen. Aber denke dir nichts dabei! Es hat mir keine Mühe gemacht.“

Als sie fertig waren mit dem Essen, hob der Alte eine Hand und die Bretter, der Brotkorb, der Krug und die Becher verschwanden in der Platte des Tischchens. Der Alte nahm das Tischchen und sagte zu dem Jungen: „Bitte bring dein Milchglas mit; denn nur das, was ich in der Küche für das Tischchen vorbereitet hatte, kann es auch wieder hinein bringen. Und habe keine Angst!“

Der Junge nahm das Glas und folgte dem Alten zögernd ins Haus. Sie kamen in einen kleinen Flur, in dem an den Haken, die an einer Wand befestigt waren, einige Jacken und zwei Mäntel hingen. Der eine Mantel war offensichtlich der Mantel des Alten. Doch daneben hing eine Mantel, der gearbeitet war, als wäre er für ein Kind oder einen sehr kleinen Erwachsenen gemacht.

Als ihn der Junge neugierig ansah, sagte der Alte: „Das ist dein Mantel, den du tragen wirst, wenn du das Haus verlässt; er wird dir einen gewissen Schutz verleihen, solltest du in Gefahr geraten. Doch jetzt komm mit in die Küche; wir müssen die Reste abräumen und die Becher und dein Glas säubern.“

Der Alte stellte das Tischchen neben den Spülstein und murmelte wieder einige Worte, worauf der Brotkorb und all die Sachen, welche draußen auf dem Tischchen gestanden hatten, wieder erschienen. Als alles erledigt war, bedeutete der Alte dem Jungen, ihm zu folgen. Er ging durch eine zweite Tür in der Küche und sie kamen in einen großen Raum, der den Rest des unteren Geschosses dieses Hauses einnahm. An der einen, fensterlosen Wand war ein mächtiger Kamin eingebaut, vor dem ein ebenso mächtiger, doch anscheinend bequemer, Schaukelstuhl stand. Ein niedriger Tisch und ein weiterer Sessel vervollständigten dieses Ensemble. Der Alte setzte sich in den Schaukelstuhl und deutete mit der Hand auf den Sessel. „Das ist dein Platz, solange du bei mir bist. Und das wird eine lange Zeit sein. Denn nach Hause kannst du nicht. Dieser Weg ist dir in den nächsten Jahren versperrt. Du würdest wieder in große Gefahren geraten, denn du bist anders als die Menschen, mit denen du in den letzten zehn Jahren gelebt hast. Und die meisten Menschen mögen die, welche anders sind als sie, nicht.“

Eine weitere Handbewegung ließ wieder einen Krug und zwei Becher auf dem Tisch erscheinen, in die der Alte einschenkte.

„Diesmal ist es kein Wein, sondern Wasser. Trink genug, denn bis zum Morgen wird es nichts mehr geben. Und morgen sollst du auch auf all die Fragen, die du hast, die Antworten bekommen, die du dir so dringend wünschst. Und jetzt lass uns schweigen!“ Der Alte schloss die Augen und schien nach einiger Zeit eingeschlafen zu sein.

Der Junge erhob sich leise und schaute sich neugierig im Raum um. Es gab Dinge, die er kannte: Ein langes hohes Regal mit unzähligen Büchern; eine große Uhr in einer Ecke mit kunstvoll geschnitztem Gehäuse; einen Lehnstuhl und einen kleinen Tisch, auf dem mehrere Bücher lagen. Und ein Schreibpult, wie es sein Vater in seinem Kontor hatte, auf dem er alles schrieb, was mit dem Geschäft zu tun hatte. Sein Vater hatte eine angesehene Mechanikerwerkstatt mit mehreren Gehilfen und einem großen Haushalt. Aber er war auch gewalttätig, jähzornig und verachtete seinen jüngsten Sohn, weil dieser einfach nichts vom Handwerk zu verstehen schien. Aus diesem Grund war der Junge auch von zu Hause weggelaufen. Er konnte die ständigen Schläge, die Verachtung auch seiner Brüder und das Leid seiner Mutter und der Schwestern nicht mehr ertragen.

Doch es gab noch Anderes in dem Raum: Einen großen Spiegel mit kunstvoll verziertem Silberrahmen. Die Rosen darauf waren so fein und natürlich gearbeitet, dass man meinen konnte, deren Duft zu riechen. Nur das Glas war wellig und verzerrte sei Spiegelbild ins Groteske. Auf einem weiteren Tisch mit vielen Schnitzereien und einer Platte, in die wunderliche Muster eingelegt waren, standen ein paar Geräte, die der Junge noch nie gesehen hatte. Als er langsam darauf zu ging, hörte er den Alten sagen: „Morgen! Denn jetzt kommt die Nacht; und wir sollten schlafen gehen.“ Als der Junge sich erschrocken umdrehte, stand der Alte neben dem Kamin. Er hatte nicht gehört wie dieser aufgestanden war. Nur der Schaukelstuhl wippte noch ein wenig.

Der Alte forderte ihn – wieder mit einer fast unmerklichen Bewegung seiner Hand – auf, ihm zu folgen. Er ging durch eine Tür im Vorraum, die dem Jungen bisher nicht aufgefallen war, zu einer schmalen, steilen Stiege und hinauf unters Dach des Hauses, wieder in einen Vorraum, in dem drei Türen waren. „Die rechte Tür führt in meine Kammer. Du solltest diese Tür nur im äußersten Notfall benutzen. Die linke Tür führt in deine Kammer. Sie wird dir in den nächsten Jahren als deine Schlafkammer und Studierstube dienen.“ Fragend schaute der Junge den Alten an. Immer wieder diese Worte, die ihm bedeuteten, bei dem Alten so etwas wie ein Zuhause gefunden zu haben. Doch warum sollte er bei diesem alten Mann wohnen, den er nicht kannte und der ihm schon ein wenig unheimlich war durch all diese Dinge, die bisher hier geschehen waren. Wohl fühlte er, dass dieser Mann ihn letzten Endes vor der Hexe gerettet hatte, als der Weg in den Wald ihn aufnahm.

„Morgen, mein Junge! Doch Eines präge dir ein und beachte! Durch die Tür am Ende des Ganges darfst du nie gehen, solange du bei mir bist! Niemals, hörst du? Am Anfang werde ich dafür sorgen, dass du das auch nicht kannst, selbst wenn du es willst. Aber eines Tages – “ Hier brach der Alte ab.

„Geh jetzt schlafen, mein Junge. Du findest alles, was du brauchst, in deiner Kammer. Gute Nacht!“

Damit verschwand der Alte durch seine Tür und dem Jungen blieb nichts anderes übrig, als auch in den Raum zu gehen, den der Alte ihm gewiesen hatte.

Die Kammer war groß, viel größer als der Raum, in dem er mit seinen Brüdern schlafen musste. Mit einem Bett anstelle des Strohsackes, auf dem er zu hause gelegen hatte; mit einem Waschbecken und einem großen Krug warmen Wassers; mit einem weichen Handtuch und richtiger Seife! Zu hause musste er sich zu jeder Jahreszeit in der Waschküche waschen, mit kaltem Wasser und einer stinkenden Schmierseife aus Schweinefett und Holzasche. Auf einem niedrigen Schrank neben dem Bett stand ein Leuchter mit einer Kerze, die der Alte offensichtlich vorher schon angezündet hatte. Das Fenster war kunstvoll geschreinert und mit richtigen Glasscheiben versehen, nicht wie in der Kammer zu hause. Die Schweineblasen hielten wohl etwas die winterliche Kälte ab, doch zerplatzten sie oft schon nach kurzer Zeit durch einen großen Regentropfen oder einen starken Wind. Und der Vater schlug immer nur ihn, obwohl er nie auch nur in die Nähe des Fensters kam. Denn sein Platz war eh in der dunkelsten und kältesten Ecke des Zimmers.

Lange betrachtete er das Fenster, bis er heraus fand, dass er an einem Griff drehen musste, um es zu öffnen. Vorsichtig lehnte er sich aus dem Fenster und sprang erschrocken zurück. In dem Licht, das die zwei Monde verbreiteten, lag ein riesiger Hund und starrte mit glühenden Augen zu ihm herauf. Der Junge brauchte einige Zeit, um diesen Schrecken zu überwinden. Als er wieder wagte, hinunter zu schauen, war der Hund verschwunden und zwei Hirsche ästen auf der Wiese zwischen dem Haus und dem angrenzenden Wald.

Ein großer Hund? Zwei Hirsche, die friedlich das Gras fraßen? Wieder Fragen, die ihm nicht aus dem Kopf wollten.

„Morgen!“ hatte der Alte gesagt.

Also wusch sich der Junge den Staub und den Schweiß von der Haut und wollte die Kerze löschen, um sich schlafen zu legen. Doch sosehr er auch blies – die Kerze ließ sich nicht löschen! „Nun denn – schlafe ich eben mit dem Licht!“, dachte der Junge und kuschelte sich in das weiche Bett.

Doch wie wunderte er sich, als die Kerze plötzlich ausging!

Sofort setzte er sich auf – und die Kerze brannte wieder.

Er wiederholte das Spiel noch einige Male, bis er seine Erschöpfung und Müdigkeit wieder fühlte und auch schnell einschlief.

Irgend etwas störte den Schlaf des Jungen; ein klopfendes Geräusch, das nicht in seinen Traum hineinpasste. So sehr er sich auch wehrte, das Klopfen ließ ihn nicht in Ruhe!

Er setzte sich schlaftrunken im Bett auf – und riss ungläubig seine Augen auf! Er saß nicht auf seinem Strohsack in der Ecke der Kammer zu Hause; er wurde auch nicht geweckt durch den Tritt eines seiner Brüder oder seines Vaters. Er saß in einem richtigen Bett, allein in einem Zimmer, in das durch ein richtiges Fernster die Morgensonne schien und Helligkeit verbreitete. Das Klopfen war auch kein böswilliger Einfall dieses Traumes, der ihn, wie es schien, schon die ganze Nacht verfolgte, sonder kam von der Tür dieses Zimmers.

„Ja – was ist?“ stammelte er mit verschlafener Stimme.

„Komm! Aufstehen! Es ist heller Tag, und wir wollen ihn nicht ungenutzt verstreichen lassen!“ Es war eindeutig die Stimme des alten Mannes, mit dem er am Abend so eigenartige Dinge und Wunder erlebt hatte.

Nun wusste der Junge wieder, wie alles zusammenhing: Die Flucht vor der Hexe; das Haus, welches er in diesem Tal fand; das wunderbare Abendessen mit dem Alten vor dem Haus. Er stand auf, richtete sein Bett, wie er es mit seinem Schlafsack und den verschlissenen Decken zu Hause niemals hätte machen können. Er ging zum Waschbecken und wusch sich den Schlaf vom Gesicht. Diesmal war das Wasser kalt und frisch und machte ihn im Nu munter.

Er trat in den schmalen Flur, fand die Treppe und stieg vorsichtig hinunter. In der Tür am Ende der Treppe lugte der alte Mann um die Ecke und strahlte ihn mit leuchtenden Augen an.

„Willkommen, mein Sohn! Wir wollen essen und dann müssen wir zusammen etwas arbeiten.“ Damit trat er in die Küche und winkte dem Jungen mit der Hand, ihm zu folgen.

„Hat mein Hund dich gestern Abend erschreckt? Er ist ein sehr guter Wächter, wie auch die beiden Hirsche, die du am Wald gesehen hast. Ich jedenfalls möchte keinen Ärger mit den Dreien haben!“

Schüchtern folgte der Junge dem Alten in die Küche. Ein wohlgedeckter Tisch mit zwei Stühlen in einer Ecke des Raumes luden zum Essen ein. Anscheinend war das Haus daraufhin eingerichtet, zwei Menschen zu beherbergen, obwohl der Junge niemanden sonst spürte. Hund und Hirsche waren wohl kaum Gäste am Tisch. Langsam verlor der Junge seine Scheu und ließ sich das Essen schmecken. Als alles aufgeräumt und sauber gemacht war, winkte der Alte ihn wieder in das große Zimmer. Diesmal brannte ein kleines Feuer im Kamin, das die morgendliche Kühle ein wenig milderte. Der Alte wies mit der Hand auf den Sessel und der Junge setzte sich vorsichtig hinein. Auf dem Tisch erschien wieder ein Krug mit Wasser und einen Becher für jeden, die der Alte füllte.

„Trink einen Schluck!“ sagte der Alte. „Das Wasser wird dir Ruhe und Aufmerksamkeit schenken für all das, was ich dir heute zu sagen habe.“ Sie tranken beide etwas von dem Wasser und der Junge war erstaunt, wie frisch es schmeckte und wie Ruhe in ihn einkehrte.

„Mein Sohn – so werde ich dich in Zukunft nennen, denn das bist du, eigentlich schon seit so viel Jahre. Ich wusste lange Zeit nicht, ob du wirklich zu mir finden würdest.“

„Aber Herr! Wie sollte das geschehen? Ich wusste doch gar nichts von Euch! Und Ihr kennt mich doch erst seit gestern!“ stotterte der Junge erschrocken.

„Bitte nenne mich ‚Vater‘, nicht ‚Herr‘ und nicht ‚Ihr‘ sondern ‚Du‘. Ich weiß seit langer Zeit, dass ein Junge geboren wurde, welcher mit Kräften begabt ist, von denen er nichts ahnte. Bis er auf der Flucht vor seinem Vater und seinen Brüdern der Kinderfresserin in die Hände fiel. Du wirst wahrscheinlich nicht darüber nachgedacht haben, warum es dir so leicht fiel, die Hexe niederschlagen zu können und wie du selbst den Krähen entkommen konntest. Jedes andere Kind wäre im Haus der Hexe gestorben. Doch du hattest Macht über sie, eine Macht, die selbst diese dunkle Kreatur fühlte und die sie im entscheidenden Augenblick lähmte. Als ich die Krähen wegen dieser Tat schreien hörte, hoffte ich, dass du den Weg zu mir findest. Ich konnte keinen starken Zauber anwenden, denn sonst wäre die Hexe zu sehr auf meine Existenz aufmerksam geworden. Aber er hat gereicht; du hast den Weg zu mir gefunden.“

Der Alte beugte sich vor, nahm den Becher und trank nachdenklich ein paar Schlucke. Er sah den Jungen an, und sein verschmitztes Lächeln bedeutete ihm, dass der Alte leicht belustigt war über den ungläubigen Blick und die Haltung des Jungen, die wie ein einziges Fragezeichen aussah.

„Mein Sohn, ich habe auf dich gewartet, all die Jahre, die du auf der Welt bist. Eigentlich habe ich schon Monate vor deiner Geburt gefühlt, dass da ein Mensch heranwächst, der Kräfte in sich hat, die auf Vollendung durch eines Meisters Lehre warten.“

Er lachte leise und nippte an seinem Wasser.

„Du wirst jetzt vielleicht fragen: ‚Meister?‘ ‚Vollendung?‘, dieser alte Mann?‘. Ich will nicht prahlen mit dem, was ich bin und kann. Doch ich bin einer der ganz wenigen Meister in der Kunst der Zauberei, die den Dunklen Mächten widerstanden haben und nicht untergegangen sind. Viele wollten immer mehr Macht; und als wir heraus fanden, wie wir unsere Macht verstärken konnten, nutzten viele meiner Art diese Möglichkeit, ohne zu bedenken, dass sie dadurch Sklaven von viel mächtigeren Geschöpfen wurden, als sie jemals sein konnten. Auch ich habe von dieser Macht genascht und wäre fast umgekommen. Doch wunderbarer Weise hat mich diese Macht auch gelehrt, die Gefahren zu erkennen. Und der Weg zur Rückkehr war für mich auch noch offen.“ Dabei warf er einen dankbaren Blick auf diesen wundersamen Spiegel in der Ecke des Zimmers.

„Aber was soll ich dabei tun?“ fragte der Junge schüchtern.

„Du wirst gemeinsam mit mir deine Kräfte ergründen; du wirst lernen, mit diesen Kräften umzugehen, damit sie zum Segen und nicht zum Fluch für dich und andere werden. Und du wirst mir helfen müssen, manche Aufgaben, die mir seit einiger Zeit immer schwerer fallen, zu erfüllen. Vor allem wirst du lernen, Gefahren zu erkennen und ihnen mit deinen Möglichkeiten zu begegnen. Es werden größere Gefahren sein, mächtigere Gegner, als du dir das als Kind vorstellen kannst.“

Wieder schwieg der Alte eine lange Zeit, und sein Gesicht nahm einen wehmütigen Ausdruck an. Denn er bemerkte wohl die Angst, die den Jungen um dieser Worte Willen befiehl. Doch plötzlich sprang er auf, nahm seinen Becher und forderte den Jungen auf: „Komm, mein Sohn! Wir wollen uns draußen auf die Bank setzten. Ich meine, dass die Sonne schon dahin scheint.“

Der Junge nahm seinen Becher und folgte dem Alten. Es war ein schöner, warmer Tag, auch wenn er den Herbst schon spüren ließ. Als sie dann auf der Bank saßen, wendete sich der Alte wieder an dem Jungen zu.

„Komm, erzähl mir von dir! Habe keine Scheu und erzähl mir alles, woran du dich erinnern kannst. Vieles weiß ich, manches erahne ich, doch es gibt noch vieles, das in den Schatten liegt. Vielleicht kannst du diese auflösen.“

Und so wurde aus dem Jungen der Assistent des Großmeisters der Zauberei Seymour de Aulner. Und aus ihm selbst später der Zauberer Ignatus Semmlinger.

Viele Jahre gingen ins Land. Immer wieder wurde der Sommer zum Herbst, der Winter zum Frühling. Aus dem Jungen war ein Mann geworden, ein großer Meister in den Hellen Künsten der Zauberei.

Und nie vergaß er die Worte, dass die Dunkle Macht ins Verderben führt.

Am Anfang reiste Meister Seymour allein zu geheimen Treffen der wenigen Zauberer, die den dunklen Mächten noch widerstanden hatten. Doch mit der Zeit, und vor Allem, als Ignatus selbst zum Meister wurde, blieb er zu Hause und schrieb immer emsiger viele hundert Seiten voll, als wollte er all sein Wissen, all das, was er in seinem langen Leben erfahren und gelernt hatte, noch einmal für seinen gewesenen Schüler zusammenfassen und ihm als sein Vermächtnis zur Verfügung stellen. Auch fiel ihm der Alltag immer schwerer und eine ungewöhnliche Müdigkeit machte sich in dem alten Mann breit. Wohl gab es noch immer viele, sehr lehrreiche Gespräche; noch immer kramte Meister Seymour Wissen und Erfahrungen aus seinem Gedächtnis hervor, die durch sein Schreiben wieder lebendig geworden waren; noch immer lernte Ignatus Feinheiten der Kunst der Zauberei kennen und beherrschen.

Und mit dieser Müdigkeit einher ging auch eine Veränderung seiner Gestalt, seines Wesens und seiner Ausstrahlung. Seine Stimme wurde leiser und in sein Gesicht trat ein Leuchten wie von einem warmen inneren Schein, dem Licht einer Kerze hinter feinem seidigen Papier ähnlich.

Eines Abends, als Ignatus von einer langen, gefährlichen Reise im Auftrag seines Meisters zurückkehrte – sie hatten zu Abend gegessen und saßen zusammen vor dem Kamin, jeder ein Glas Wein vor sich auf dem Tisch – begann Meister Seymour zu sprechen. Und seine Stimme hatte einen Klang und eine Festigkeit, welche Ignatus schon lange Zeit bei seinem Meister vermisst hatte.

„Mein Sohn, du bist jetzt Meister in den Künsten der Zauberei. Ich habe dich alles gelehrt, was ich zu lehren hatte.“

Ignatus schaute verstört auf ob dieser Sprache und wollte eine Frage stellen.

„Bitte unterbrich mich nicht! Du hast tausendfach bewiesen, dass du mir ebenbürtig bist; du hast Kämpfe und Gefahren bestanden, die dich an deine Grenzen brachten und du hast sie meisterhaft bestanden; du kennst alle Geheimnisse der Hellen Kunst und du hast bewiesen, dass du den Dunklen Mächten widerstehen kannst. Und du kennst das Geheimnis des silbernen Spiegels. Verwende ihn nur bei Gefahr und sehr verantwortlich!“

Der Alte schwieg eine Zeit lang; dann trank er einen kleinen Schluck von seinem Wein und sprach weiter:

„Deine Zeit bei mir ist zu Ende; ich entlasse dich aus deinem Dienst bei mir, der dich die vielen Jahre an mich gebunden hat. Deine zukünftigen Aufgaben kannst du nun getrost alleine angehen und du wirst sie lösen, so wie ich es von dir erwarte. Doch ein Geheimnis habe ich dir noch nicht verraten. Es ist ein sehr gefährliches Geheimnis, das du unter allen Umständen hüten musst!“

Noch einmal trank er einen Schluck und lehnte sich auf seinem Stuhl leicht nach vorne. Als er weiter sprach, sah er Ignatus aufmerksam an.

„Als du zu mir kamst, damals auf der Flucht vor der Kinderfresserin, hast du die Tür dieses Hauses bewundert – und du hattest Furcht vor dieser Figur in deren Mitte. Diese Furcht war wahrlich berechtigt, denn das Geheimnis hinter dieser Figur ist sehr gefährlich für jeden, der es kennt. Du weißt um die Rückkehr der Erlelfen seit dem unsäglichen Tod der Dunklen Fee. Und du weißt, wer dafür verantwortlich ist: Der hinterhältigste, gemeinste und gefährlichste Erlelf, der den Fluch der Feen überlebte. Viele sind mit ihren Bäumen gestorben, einige hat dieser Elf in der anderen Welt getötet. Er nennt sich selbst ‚Spieler‘. Nun ist er zurück. Und es gibt nur eine Möglichkeit ihn zu besiegen. Und diese Möglichkeit verbirgt sich in dieser Tür – wenn es nicht gelingt, die Dunkle zurück zu bringen. Denn sie hat einen kleinen Teil ihrer Macht, einen kleinen Teil ihres Lebens retten können.“

Der Alte erhob sich mühsam aus seinem Stuhl und trat zum Kamin. Es war wieder Herbst geworden und ein Feuer im Kamin verbreitete Wärme in dem Zimmer. Nachdenklich sah er in die Flammen und streckte seine Hände aus, als wollte er die Wärme des Feuers in sich hinein leiten.

Ignatus war aufgestanden um seinen Meister zu stützen, doch der wehrte seine Hände ab und ging langsam ein paar Schritte zu Fenster.

Versonnen sah er auf die Welt da draußen, als überlege er, wie er weitersprechen sollte. Als er sich wieder Ignatus zuwandte, zum Stuhl ging und sich vorsichtig setzte, war sein Gesicht ernst und seine Stirn hatte eine steile Falte in der Mitte.

Ignatus schaute ihn aufmerksam an und ahnte, dass der Alte angestrengt nachdachte, wie er etwas Wichtiges, vielleicht Gefährliches sagen sollte. Schließlich sprach er weiter:

„Es gab ein Bild von Spieler in seiner wahren Gestalt; er hat es in der anderen Welt malen lassen. Doch als er sich der Gefahr bewusst wurde, die in diesem Bild steckte, hat er es zerstört. Aber es gab eine Kopie, welche mit dem Original identisch war. Und diese Kopie, von der Spieler erfuhr, ließ sich nicht finden. Er ließ den Maler grausam foltern, und als dieser ihm nicht sagen konnte, wo diese Kopie war, tötete er ihn. Doch da war das Bild schon in Sicherheit. Denn als ich damals, vor fast zweihundert Jahren, genau wie du auf der Flucht vor einer Hexe dieses Haus und meinen Meister fand, war das Bild bereits in diese Tür gebannt. Und nur Eine kann das Bild aus seiner Verbannung lösen: Die die Wachs zum Atmen bringt! Ich sehe noch nicht ganz klar, ob das nötig werden wird; doch diese Möglichkeit bleibt.“

Wieder schwieg der Alte. Ignatus vermutete nach einer Weile, dass der Alte eingeschlafen sei. Er stand leise auf, trat ans Fenster und sah den Hirschen zu, wie sie am Waldrand ästen. Doch nicht nur ihn beunruhigten diese Worte; auch die beiden Tiere sahen immer wieder aufmerksam zum Haus, als witterten sie eine nicht zu greifende Gefahr.

Da begann der Alte wieder zu sprechen:

„Setz dich, mein Sohn; wir wollen zum Ende kommen.“

Als sich Ignatus niedergelassen hatte, fuhr er fort:

„Du wirst in nächster Zeit mit zwei Menschen zusammentreffen, die eine sehr gefährliche Aufgabe zu lösen haben. Und du wirst ihnen dabei helfen! Das klingt wie ein Befehl, doch es ist mein sehnlichster Wunsch , dass du ihnen beistehst. Und sie dürfen nicht versagen, denn sonst wird es Krieg geben, einen Krieg, wie ihn diese Welt noch nicht erlebt hat. Der Mann ist aus der anderen Welt durch einen ebensolchen Spiegel gekommen, wie du ihn dort in der Ecke stehen siehst. Seine Gefährtin hat ein ähnliches Schicksal wie deines. Auch sie ist vor der Gewalt in ihrer Familie geflohen – und sie ist eine Gestaltwandlerin. “

Wieder unterbrach er sich, nahm eine Schluck Wein und bewegte sich ein Wenig, sodass der Stuhl leicht in Schaukeln geriet. Die Zeit verging, der Tag war vorüber und die Kerzen auf den Leuchtern begannen zu brennen. Ignatus meinte schon, sein Meister wäre wieder eingeschlafen. Doch dann sprach der Alte weiter, und seine Stimme wurde nun ein Wenig leiser und wie Ignatus meinte, mit einem wehmütigen Klang.

„Dieses Haus war deine Heimat, seit du vor deinem Vater und deinen Brüdern geflohen bist. Und es wird deine Heimat bleiben, denn du bist immer willkommen. Außerdem kennst du die Zauber, die dieses Haus beschützen.“

Hier musste der Alte lächeln, als er an die Angst des Jungen vor dem Hund in den ersten Tagen hier im Haus dachte.

„Ja, es hat etwas gedauert, bis ihr gut Freund geworden seid, mein Hund und die beiden Hirsche. Auch sie werden dir erhalten bleiben; denn sie sind ebenso im Zauber dieses Hauses wie wir beide. Wenn du Lust hast, so lies meine Aufzeichnungen. Sie liegen in deinem Zimmer; und du solltest sie wohl verwahren, wenn du eine Reise tust. Es ist, so sollte ich wohl sage, mein Vermächtnis und Testament. – Du sollst mich nicht unterbrechen!“

Ignatus war aus seinem Sessel aufgesprungen und schaute den Alten ungehalten an.

„Setz dich,mein Sohn, und unterbrich mich nicht wieder! Wir haben böse Zeiten vor uns und es sind mächtige Gegner erschienen, die besser aus unserer Welt weggeblieben wäre. Doch es besteht Hoffnung! Hilf diesen beiden Menschen mit all der Macht, die du hast. Du hast eine gute Freundin in der Nähe von Schwanstein, dem Ort, in dessen Wäldern du einst einer Kinderfresserin das Handwerk gelegt hast. Du wirst sie aufsuchen müssen, denn ich sehe, dass sie dich brauchen wird. Und sie wird dich wohl auch zu diesen Beiden führen. Und nun lass mich bitte allein und geh schlafen. Wenn es noch Wichtiges zu bereden gibt, so werden wir morgen weitermachen. Denn auch ich bin müde.“

Ignatus nahm seinen Becher, beugte sich zu dem Alten und küsste ihn auf die Stirn wie an jedem Abend.

Doch heute war etwas anders; und das fühlte er, und es erfüllte ihn mit tiefer Wehmut.

„Ich wünsche dir eine gute Nacht – Vater!“

Es war das erste Mal, dass er zu seinem Meister „Vater“ sagte, obwohl der Alte ihn immer „Mein Sohn“ genannt hatte. Etwas war anders an diesem Abend.

Und als er am anderen Morgen das große Zimmer betrat, wusste er auch, was das am Abend vorher bedeutet hatte.

Schon am Morgen vermisste er das Klopfen an seiner Kammertür, ein Ritual, welches der Alte all die Jahre eingehalten hatte, denn er wachte stets als Erster auf.

Er bemerkte, dass sein Meister im Sessel saß und meinte, er hätte darin geschlafen. Denn es kam hin und wider vor, dass er noch etwas lesen wollte oder schreiben. Als er jedoch um den Sessel herum ging und seinen Meister vorsichtig an der Schulter berührte, wusste er den tiefen Sinn ihres Gespräches am vergangenen Abend.

Sein Meister war tot.

Er begrub ihn neben dem Grab des Meisters seines Meisters, holte eine großen Stein und legte ihn auf den Hügel des Grabes. Der Hund und die Hirsche standen am Rande des Waldes und schienen ebenso zu trauern wie er.

Doch der Großmeister der Zauberei Ignatus Semmlinger kannte seine Aufgabe. Und auch die Tür am Ende des Ganges unterm Dach öffnete sich jetzt für ihn.

Bild: Pinterest, pin/1125968650528293/

Alma – Ein Telegramm aus Schwanstein

Orlando war nicht da, abgereist zu seinem Dienstherrn Sultan Mehmed der Prächtige, um ihm Bericht zu geben über all die Begebenheiten der letzten Zeit. Auch über das, was in Nihon geschehen war, über die Ereignisse in Jahoon, auf der Reise nach Vena und den Angriff der Lebkuchenbäckerin.

Nur von den Spiegeln wusste er nichts.

Fuchs war viele Stunden am Tag allein, nur Hideo schaute oft zu ihr, unterhielt sich mit ihr und machte die Zeit des Wartens auf Jacob erträglicher. Jacob verbrachte viele Stunden in den Archiven des Kaiserlichen Palastes und auch in den Sammlungen Kami’ens. Nur hatte er nicht sehr viel mehr herausgefunden als Robert Dunbar, der sich zur Zeit in Tasmanien aufhielt. Es blieben ihm nur seine sehr unerfreuliche Begegnung mit Spieler und die Gewissheit, dass sich mit dem Tod der Dunklen Fee die Gefängnisse der Erlelfen geöffnet hatten und die, welche fliehen konnten, zurück waren.

All das half nicht, die Wunden der Füchsin, durch dunklen Zauber geschlagen, schneller heilen zu lassen. Selbst die Bemühungen der Ärzte Kami’ens, die viele Heilmethoden kannten, von denen die Menschenärzte kaum etwas wussten, brachten keine schnellere Heilung. Jacob sah Fuchs Schmerzen und ihre Angst um das Kind in ihr – auch wenn diese Angst wohl unbegründet war – und grübelte verzweifelt nach einer Lösung.

Und da dachte er an Alma.

Sie heilte die Menschen und Tiere um Schwanstein mit den Mitteln der Menschenärzte und mit den Mitteln der Natur, aber auch mit den Mitteln der Zauberei. Denn sie war eine Hexe, allerdings eine Hexe der Hellen Seite der Geschöpfe mit besonderen Fähigkeiten.

Eigentlich wäre es ganz einfach, Alma um Hilfe zu bitten – wenn da nicht der Spiegel wäre!

Und Nerron, der diesen Spiegel finden wollte, koste es was es wolle!

Und Kami’en.

Seit Jacob von der Kenntnis Almas von dem Spiegel wusste, wagte er nicht mehr, ihr zu schreiben. Sicher wusste die Geheimpolizei des Königs der Goyl von ihrer Existenz und ihrer Bekanntschaft; Jacob wollte trotzdem alles vermeiden, was Alma gefährden konnte. Und deshalb war eine Reise Jacobs nach Schwanstein keine Reise an einen anderen Ort, sondern eine Herausforderung.

„Lass es! Bitte!“ war die erschrockene Reaktion von Fuchs als er ihr von dieser Idee erzählte. „Du kannst nicht nach Schwanstein fahren! Kami’ens Spione werden dir bei jedem Schritt, den du tust, an den Fersen hängen. Du hast selbst von deinem Gefühl gesprochen, dass Kami’en dir deine Geschichte nicht geglaubt hat. Und dass der Bastard seine Ehre an diesen Spiegel gehängt hat, weißt du.“

Jacob reagierte nicht. So wie es seine Art war, Entscheidungen zu treffen, einfach zu tun, was er für richtig und notwendig hielt. Und alles, was Fuchs auf seinem Gesicht sah, war die Entschlossenheit, diesen Versuch zu wagen. Und sie wusste, dass sie Jacob nicht hindern konnte, diesen Weg zu gehen.

„Wie willst du den Spionen Kami’ens aus dem Weg gehen? Wie willst du verhindern, dass dir der Bastard folgt?“

„Ich weiß es noch nicht!“ war Jacobs Antwort. „Ich werde einen Weg finden; bitte frage nicht – noch nicht – welchen. Aber ich will, dass du gesund wirst! Nicht allein um unseres Auftrags Willen, sondern wegen unserem Kind. Dass wir auch den Auftrag Kami’ens und der Dunklen erfüllen müssen, weißt du genau so gut wie ich. Sonst haben wir wahrscheinlich nie Frieden. Wissen wir, ob die Kraniche Toshirós Spieler wirklich getötet oder so verletzt haben, dass er eine lange Zeit keinen Schaden anrichten kann? Wissen wir, ob die Kraniche die Lebkuchenbäckerin getötet haben? Sie ist schon einmal wieder auferstanden, hat durch Spielers Zauberei einen neuen Körper und neues Leben bekommen!“ Jacob ging unruhig und hastig im Zimmer herum. „Wir müssen Apaullo finden. Wir müssen alles tun, um der Dunklen zu neuem Leben zu verhelfen.“ Fuchs seufzte und sagte leise, mit verhaltener Resignation in der Stimme: „Ich kann dich nicht halten. So lange waren unsere Wege nur nebeneinander; nun haben wir Verantwortung für unser Kind, das in mir wächst. Unser Kind! Wenn du doch ein Wenig daran denken würdest!“ Jacob beugte sich zu ihr und nahm sie ganz vorsichtig in die Arme. „Ich weiß. Und ich denke die ganze Zeit über kaum etwas Anderes nach. Aber was soll werden, wenn Spieler wiederkommt? Dein Kind – unser Kind – darf niemals in seinem Silberpalast enden! Lass mich bitte dafür sorgen.“ „Jacob, wir sind Zwei. Und du denkst schon wieder nur in deiner Welt! Doch die Aufgabe, die dir und uns durch Kochany von der Dunklen Fee übertragen wurde, können nur wir zwei gemeinsam erfüllen. Und das weißt du genau so gut wie ich“

Ja – es war eine schwere Aufgabe. Und sie war nicht zu erfüllen, solange Fuchs noch so krank war.

Finde Apaullo und die, die Wachs zum Atmen bringt.“

Jacob war immer Wege gegangen, die irgendwie aus ihm heraus sich ergaben, aus den Aufgaben, die er übernommen hatte. Und jetzt waren die Wege so verschlungen und schwer zu gehen, dass er eine große Angst in sich spürte.  Wenn er nur mit Orlando reden könnte – auch wenn es ihm schwer fiele. Aber vielleicht hätte der Gänserich einen Ausweg, den der Mensch Jacob nicht findet.

Er musste nach Schwanstein. Er musste zu Alma! Sie hatte ihn schon so viele Male gerettet; sie wüsste gewiss einen Weg, Fuchs zu heilen.

„Fuchs, ich weiß, dass du einen Weg kennst, Orlando zu erreichen. Verzeih, aber ich weiß es einfach! Lass ihn hier her kommen. Vielleicht kann er uns helfen.“ „Welchen Weg soll ich kennen?“ „Ich habe die Feder gesehen; und selbst wenn ich nicht die Fähigkeiten einer Füchsin habe – diese Feder ist die Verbindung zwischen dir und Orlando. Nein, ich bin nicht eifersüchtig! Aber vielleicht weiß er einen Weg, den wir nicht sehen.“ „Jacob, weißt du, wie schwer es ist, wenn man zwei Menschen im Herzen trägt? Du bist der Vater unseres Kindes, und ich liebe dich ohne Kompromisse. Aber Orlando ist der Mensch, der in meiner ganz großen Einsamkeit bei mir war. Und es ist schwer, ihn immer wieder unsere Schwierigkeiten lösen zu lassen.“

Ein Diener der Botschaft klopfte an die Tür. Als Jacob öffnete, reichte dieser ihm ein Telegramm.

Ein ungewöhnlicher Helfer

Er saß mit Alma im Zu nach Vena. Sie hatte lange gezögert, Wenzel im „Menschenfresser“ zu besuchen und ihn nach Chanute und Solvain zu fragen. Als er ihr von der Reise nach Kamchatka erzählte, wurde sie so ungehalten, dass sie einen Fluch losließ. Und zwar einen Fluch von der Sorte, die Monsieur Solvain Caleb Flower zu seinem Markenzeichen gemacht hat. Oh – er wäre wohl recht stolz gewesen, denn es war ein Fluch der Art, die einem eine pompöse Hinrichtung einbringen konnte, wenn man damit nur einen Postboten bedachte. Und durch Wenzel erfuhr sie von dem Überfall auf Fuchs. Es war nur eine unbedeutende Nachricht im Schwansteinschen Botenblatt, fast nur eine Vermutung über eine eigentümliche Erscheinung mit großen brennenden Vögeln auf einem Friedhof in Vena. Alma jedoch wusste sofort, dass dieses Ereignis mit Fuchs und Jacob zusammenhing.

Woher?

Es war eine Angst in ihr um Fuchs,die sie sich nicht erklären konnte. Und nun diese kleine, wenige Zeilen lange Nachricht. Sie hatte Angst und sie wusste, die Füchsin traute eigentlich nur ihr und Jacob. Und deshalb war der Entschluss, nach Vena zu reisen nicht gar schwer gefallen. Zumal ein sehr guter Freund sich anbot, mit ihr zu reisen.

Sie hatten sich kennengelernt, als er vor vielen Jahren in der Nähe Schwansteins einer Kinderfresserin das Handwerk legte. Nun – die Aktion brachte ihm ein paar Schnabelhiebe einer der Hexenkrähen ein. Und einen Besuch bei Alma Spitzweg. Sie versorgte die sehr schmerzhafte, tiefe und heftig blutende Wunde mit einer Salbe aus den Kräutern vom alten Schwansteinschen Schlossgarten. Jetzt sprachen sie auch über diesen Überfall in Vena auf eine junge Frau am Grabmal eines verflossenen Mitglieds der alten Kaiserfamilie.

Ignatus bekräftigte Almas Entschluss, die Reise anzutreten, um helfen zu können.

„Ignatus, Ihr seid so viel umher gekommen; darf ich Euch bitten, mein Begleiter zu sein? Mir ist nicht ganz geheuer. Es ist schließlich eine Reise in eine sehr verrückte und gefährliche Weltgegend. Ihr werdet sicher von der Entführung des Prinzen Kochany durch ein Komplott Amaliens von Austrien und ihrer Mutter erfahren haben, die vor zwei Jahren geschehen ist. Seither sind die Vorkehrungen in Vena um ein Vielfaches verstärkt worden.

Ignatus war sofort einverstanden, auch wenn er die „Eisernen Rösser mit ihren feurigen Mäulern“ nicht wirklich mochte. Sie stanken und verpesteten mit ihrem Qualm und Ruß die Welt, die er liebte. Aber Alma eine wahrscheinlich gefährliche Reise allein antreten zu lassen, behagte ihm nicht.

Es war eine aufregende Fahrt nach Vena. Schon die Erscheinung Semmlingers erregte die Aufmerksamkeit des Personals am Bahnhof in Schwanstein. Der Beamte welcher die Fahrkarten verkaufte, wollte diesen großen, verwahrlost aussehenden Mann nicht auf den Bahnsteig lassen.

Doch Ignatus bezahlte mit gutem Silber und nicht mit diesen Händen voller kleiner Kupfermünzen, die hier sonst über den Tresen gingen.

Und er war in Begleitung einer wohl bekannten Hexe, denen viele Menschen und Tiere in und um Schwanstein vieles Gutes zu verdanken hatten.

Also saßen sie nun im Zug, ignorierten die ängstlichen oder auch neugierigen Blicke der Mitreisenden und sprachen leise über die Aufgaben, die sie erwartete. Auch wenn ein Gespräch in einem zitternden und ratternden Eisenbahnwagen recht schwierig waren.

Alma konnte ein recht einfaches aber ausreichendes Lothringisch und für Ignatus war sie eine seiner Muttersprachen, mit denen er aufgewachsen war. Und es war kaum anzunehmen, dass die Handwerker und Bauern in dem Waggon dritter Klasse sie verstanden. Außerdem benutzten sie einen Dialekt, der mehr im Helvetischen als im Lothringischen üblich war.

Für die gut hundert Meilen brauchte der Zug fast acht Stunden, in denen sie alles hin und her durchdachten, was ihnen in der nächsten Zeit unterkommen könnte. Dass die Goyl durch die immer wieder vorkommenden Attacken und Überfälle sehr vorsichtig waren, sahen sie an den Kontrollen auf den Bahnhöfen und selbst im Zug, je näher sie Vena kamen. Ignatus Semmlinger hatte einen Pass, der ihn als austrischen Bürger auswies und von einem bedeutenden weit im Westen Austriens, an der Grenze Helvetiens lebenden Fürsten gezeichnet und mit einem mächtigen Wappen gesiegelt war. Offensichtlich war er ein wohl gelittener treuer Untertan der neuen Herrscher, denn das Siegel sicherte selbst Alma eine, wenn auch nicht wohlwollende, so doch unaufdringliche Behandlung zu. Auch die allerlei Kräuter, Salben und Tinkturen in ihren Taschen erklärte Ignatus so einleuchtend, dass die Goyl sie unbehelligt ließen.

Alma allerdings wunderte sich immer mehr über die Art ihres Reisebegleiter, den sie so noch nie kennen gelernt hatte. Und sie nahm sich vor, das möglichst schnell herauszufinden. Denn sie hatte gemerkt, dass die Soldaten, die sie kontrollierten, stets sehr eigenartige wie abwesend wirkende Gesichter zeigten, wenn Ignatus mit ihnen sprach.

Ignatus Semmlinger war aber auch eine eindrucksvolle Person: Mindestens eine Kopf größer als gewöhnliche Menschen, breit in den Schultern und eine Gestalt voller Kraft. Sein Bart war mehr als eine Elle lang und endete in drei sauber geflochtenen Zöpfen. Allerdings war er auch eine reichlich abgerissene Erscheinung. Er trug eine Soutane, welche aussah, als hätte er sie im Lumpensack eines Klosters gefunden; seine Stiefel hatten wahrscheinlich schon viele hundert Meilen auf allen möglichen Straßen und Wegen gesehen; der Gang war der eines Menschen, welcher aussah, als wäre er stets nur mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Doch seine Augen waren lebendig, klar und flink. Ihnen entging nicht die kleinste Bewegung in seiner Umgebung.

Alma hatte Jacob ein Telegramm geschickt, das von einem Boten des Hotels, in denen Fuchs und Jacob sonst immer wohnten, in die suleimanische Botschaft gebracht worden war. Und so erwartete er Alma im großen Bahnhof in Vena. Ignatus raunte Alma zu, dass er etwas später aussteigen würde, um sich unauffällig umzusehen.

Und er hatte recht mit seinem Misstrauen!

Jacob begrüßte Alma so herzlich, wie ein Junge seine Mutter begrüßt nach einer langen Zeit, in der sie sich nicht mehr gesehen hatten.

Als sie beide den Bahnhof verlassen wollten, löste sich aus einer dunklen Ecke eine Goylpatrouille und stellte sich ihnen in den Weg. Leutnant Nesser bedeutete ihnen wortlos, ihnen zu folgen und führte sie in eine kleinen dunklen Raum in der Ecke des Bahnhofs. „Alma Spitzweg, nehme ich an? Bitte verzeiht diese Dunkelheit hier. Sie schont meine Augen. Mein König wünscht Euch zu sprechen und ich habe den Befehl, Euch zu ihm zu bringen.“ Sie wandte sich zu Jacob: „Reckless, du gehst am besten ganz unauffällig zurück in die Botschaft. Und mach dir keine Sorgen um Madame Spitzweg. Sie wird schon bald ihre Aufgabe übernehmen können.“ Sie sah fragend die Soldaten an, die mit im Raum standen. „Ihr hattet einen illustren Begleiter, Madame. Er scheint Euch irgendwie abhanden gekommen zu sein. Wisst Ihr, was ihn so spurlos verschwinden ließ?“ „Madame…“ „Ich bin nicht Madame! Ich bin Leutnant Nesser!“ „Verzeiht, Leutnant, doch sagt mir bitte, was das alles soll? Ich möchte nichts weiter, als Mademoiselle Auger zu helfen wegen ihrer Krankheit. Ich brauche Euch wohl kaum zu sagen, dass wir uns schon sehr lange kennen.“

Nesser runzelte die Brauen und ihr Blick wurde eisig. „Je schneller Ihr mitkommt, um so eher seit Ihr wieder bei Eurer Patientin!“ Ein Wink Nessers und die Soldaten führten Alma sehr bestimmt auf den Platz vor dem Bahnhof, wo ein Automobil wartete. Dort drängten sie Alma hinein und fuhren mit großer Geschwindigkeit los.

Jacob stand erstarrt mit zornrotem Gesicht und geballten Fäusten; doch er wusste auch, dass er keine Chance hatte Alma zu helfen. Er konnte nur hoffen, dass Kami’en den Auftrag den er ihnen gegeben hatte, nicht vergaß.

Als Jacob langsam aus seiner Erstarrung erwachte, gewahrte er einen Mann neben sich, der ihn um mehr als Haupteslänge überragte. Seine Erscheinung ließ Jacob erschrocken einen Schritt zur Seite machen. „Keine Angst, Mr. Reckless“, sprach er ihn in reinstem Albisch an. „Ich muss Euch nur bitten, still zu sein und uns keine Neugierigen auf den Hals zu hetzen. Noch hat Leutnant Nesser sich meiner nicht wieder erinnert; und das sollten wir nutzen, zu verschwinden. Mein Name ist Ignatus Semmlinger und ich bin ein sehr guter Freund Almas. Sie bat mich, sie zu begleiten auf dieser Reise. Außerdem kann ich gewiss behilflich sein. Nur müssen wir erst einmal so schnell wie möglich zur suleimanischen Botschaft kommen. Doch jetzt schnell hinaus! Ihr habt gewiss eine Kutsche warten lassen?“

Jacob war so perplex, dass er einfach tat, was dieser Fremde sagte.

Er hätte auch nicht anders gekonnt…

Die Kutsche wartete noch vor dem Bahnhof. Der Kutscher schaute sehr skeptisch ob dieses illustren Begleiters, als Jacob mit dem Fremden aus dem Bahnhof trat, ihn in die Kutsche steigen ließ und befahl loszufahren. Und so kamen sie nach einer guten halben Stunde zur Botschaft des Suleimanischen Reiches.

Die Sorgen, welche sich Jacob darüber machte, wie er den Mann wohl in die Botschaft bringen sollte, erübrigten sich sehr schnell. Als sie am Tor ausstiegen und den Kutscher bezahlt hatten, öffnete der Wachposten wortlos das Tor und ließ sie mit einer Verbeugung in die Botschaft.

Langsam wurde Jacob der Mensch neben ihm immer unheimlicher. „Nicht jetzt, Mr. Reckless! Wenn wir bei Eurer Füchsin sind, wird sich alles klären. Und noch eines: Ich bin kein Erlelf!“ Er zeigte Jacob seine Händen. „Alma hätte einen derartigen Betrug gewiss sofort bemerkt. Dazu kennt sie mich schon zu lange und zu gut. Außerdem habt Ihr einen Beschützer, der mich vernichten würde, wie er es schon einmal bei einem Anderen getan hat – oder versuchte…“ Die letzten beiden Worte sprach er sehr leise und nachdenklich.

In Jacobs Kopf drehte sich alles. Er wusste nur noch, dass er Hideo davon abhalten musste, diesen Mann ebenso zu begrüßen wie ihn, als er von Kami’en freigelassen wurde.

Er klopfte an die Tür, hinter der Fuchs lag und sehnsüchtig auf seine Rückkehr vom Bahnhof und auf Alma wartete.

Bild: Bild von Brigitte Werner auf Pixabay

Noch (k)ein Wintermärchen

Der erste Schnee.

Eigentlich macht mich der Herbst zwiespältig. Die Farben, welche die ersten kalten Nächte über die Wälder hauchen, sind wunderschön – doch sie machen auch Vergänglichkeit anschaulich.

Die Bäume tun natürlich etwas Anderes als wir Menschen im Herbst unseres Lebens: Sie speichern ihre Lebenskraft in ihren Wurzeln.

Und das ist uns Menschen nicht möglich. Unsere Wurzeln liegen in der Vergangenheit; sie werden unser Wissen, unser Können nicht wirklich aufbewahren für ein neues Werden und Wachsen. Wir Menschen können unser gelebtes Leben nur in die Zukunft tragen. Die Farben, die uns das Altern bringt, sind – wenn überhaupt – nur in unseren Kindern zu erhalten und zu neuem Wachsen und Werden zu bringen.

Doch verlasst euch nicht darauf! Der Baum weiß, dass er mit der Sonne und Wärme des Frühlings zu neuer Kraft findet und wieder Blätter, Blüten und Früchte tragen wird. Unsere Kinder hingegen sind wie neue Bäume, an einem anderen Ort, lebend unter oft ganz anderen Bedingungen als wir Eltern gelebt haben. Welchen Weg werden sie gehen? Empor zum Licht sich strecken oder doch lieber die Hecke bleiben, die sich dem Willen der Umgebung anzupassen hat. Wer weiß?

Wir Menschen sind eher wie die Bäume, die Nadeln tragen. Vielleicht werfen wir diese oder jene Nadel ab, doch das Kleid werden wir nicht wechseln, selbst wenn es dasselbe ist wie im letzten Jahr. Nur die Äste werden mit der Zeit kahler, die Rinde schrundiger und vielleicht wird das Mark an dieser oder jener Stelle von Fäulnis oder Krankheit befallen.

Doch lassen wir die dunklen Gedanken!

Die überzuckerten Berge, die weißen Wälder in diesen Höhen haben auch eine Botschaft in sich: Ruht euch aus! sagen sie; gebt euch keine Mühe, den Lauf der Zeiten aufhalten zu wollen! Bedenkt, dass alles Leben auch Zeiten der Ruhe braucht, Zeiten zur Erholung und zum Sammeln neuer Kraft für die kommende Zeit der Sonne und der Wärme.

Mir fällt da eben ein Gedicht ein, geschrieben von Hermann Hesse, welches ich vor langer Zeit einmal auswendig gelernt habe. Ich muss es heute abschreiben, denn es ist meinem Gedächtnis abhanden gekommen:

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Es sind viele Jahre vergangen, seit ich die letzte Wanderung im Winter unternommen habe: Mit Rucksack, Schlafsack, Zelt und Fertigsuppe (ich werde die Marke nicht nennen, nur soviel – es ist nicht DIE Marke!). Es waren wunderbare Erfahrungen; die Ruhe in der Natur teilten sich in diesen Umgebungen so unmittelbar mit wie es sonst kein anderer Urlaub oder eine Wanderung im Sommer zu erreichen vermochten, so dass ich die Fährnisse des Alltages viel leichter abtun konnte. All die Menschen, welche die Einsamkeit der Berge als Event missbrauchen, sind in ihren warmen Wohnungen oder auf irgendwelchen Schipisten unterwegs, die letzten Endes auch nur Events sind.

Und diese Wanderungen waren auch eine Unmittelbarkeit des Seins. Wusste ich, ob ich wieder heil nach Hause kam? Die Gefahren in Schnee und Kälte, die unvorhersehbaren Gegebenheiten im Gebirge waren immer evident.

Nun betrachte ich die weißen Gebirgshöhen von unserer Terrasse aus und empfinde ebenso ein Wenig der Ruhe und Gelassenheit wie damals, als der heiße Tee und die frisch zubereitete Suppe die Strapazen der Wanderung verblassen ließen.

Und damit werde ich den Platz auf der Terrasse verlassen, meine Teetasse nehmen und wieder in die Wärme des Zimmers verschwinden…

Bild: © A. J. R. K. Privat

Die Festung in der Wüste

Ein See voll wunderbar weichen, süßen Wassers, ein paar weiß getünchte Häuser, gebaut aus Lehm, Ästen und geflochtenem Zweigwerk: Das ist die Oase Qarat Umm es-Sugheir. Sie liegt an der Karawanenstraße von Marsa Matruh am dem Meer, welches hier al-Bahr al-Rum genannt wird, zur großen Oase Siwa am Rande des riesigen Sandmeeres im Süden.

Zweihundert Meilen durch Sand und Einsamkeit – wenn nicht diese winzigen „Blauen Augen der Wüste“ wären, an denen die Menschen und Kamele, die Karawanen mit ihren oft unglaublich wertvollen Lasten ruhen könnten, mit lebensspendendem Wasser und einfacher Nahrung versorgt.

Und beschützt wurden durch eine riesige Festung am Rand der Oase.

Vor vielen hundert Jahren zogen von hier Reiter aus, diesen sandigen Pfad zu bewachen und die Karawanen sicher zu geleiten. Bis eines Tages vor so vielen Jahren, dass selbst die ältesten Sagen nur eine vage Ahnung von dem geben, was damals geschah, alles endete.

Seit dieser längst vergangenen Zeit, versunken im Dunkel der Jahrhunderte, steht im großen, von hohen Mauern umgebenen Innenhof der Festung eine Erle. Ihre Rinde schimmert silbern, ihr mächtiger Stamm überragt selbst die höchsten Gebäude und die Krone ist so weit ausladend, dass kaum noch ein Strahl Licht bis auf den Grund des Hofes findet.

Und die Sage um diesen Baum, von Generation zu Generation weitergegeben und um manches Wunder ergänzt, hatte die Festung vor Plünderung und Zerstörung bewahrt.

Apaullo

Apaullo ging mit auf dem Rücken gefalteten Händen und sehr nachdenklichem Gesicht langsam über den Innenhof zu seinen alten Gemächern, in denen er vor so langer Zeit gelebt und geherrscht hat. Es war wirklich ein Wunder – all seine Möbel, seine Bücher, selbst das silberne Geschirr standen an ihren Plätzen, überzogen von einer dicken Schicht feinsten Sandes, dass manche Form nur noch zu erahnen war.

Das Wunder der Wiedergeburt fand an einem frühen, hellen, frischen Morgen statt, noch entfernt von der Hitze des Tages. Ja – es konnte frisch werden in der Wüste, wenn die Nacht über dem Land liegt. Und diese Geburt wurde natürlich von Jungen und jungen Männern beobachtet, die jeden Morgen zeitig aufbrachen, um in den alten Mauern Vogeleier zu sammeln von all den Tausenden Vögeln, die jedes Jahr aus den kalten Schneelanden des Nordens kamen um den Menschen eine willkommene Jagd und zusätzliche Nahrung zu gewähren.

Apaullo. Als die Kunde von der Wiedergeburt dieses Mannes das Dorf erreichte, versteckten sich die Menschen in ihren Häuser; denn es konnte und durfte nicht sein, dass sich Sagen und Märchen erfüllten, obwohl diese Menschen mit Wundern zu leben gelernt hatten.

Wie auch mit dieser geheimnisvollen Höhle, eine kleine Strecke Weges von der Festung entfernt. Die Einheimischen mieden die Höhle, seit immer wieder Menschen in ihr verschwanden. Nur die Fremden, welche in der Karawanserei von ihr erfuhren, versuchten noch ihre Geheimnisse zu ergründen. Kaum einer von ihnen erreichte wieder das Licht des Tages, und die Wenigen, die lebend daraus hervor kamen, hatten unendliche Angst und den reinen Wahnsinn in ihren Augen, dass bald selbst die fremden Reisenden die Höhle mieden.

Dann geschah es am Abend des Tages der Rückkehr Appaulos, dass dieser wundersame Mann mit seiner eigenartigen, fremden Kleidung und seinen sechsfingrigen Händen an der Spitze einer Heerschar, die noch nie in dieser Gegend gesehen wurde, aus der Höhle hervor kam und zur Festung zog. Ihrer Kleidung und ihren Waffen nach zu urteilen mussten sie vor sehr langer Zeit gelebt haben. Sie führten Karren mit sich, die mit großen schweren Truhen beladen waren, welche mit starken Eisenbändern beschlagen und mit mächtigen Schlösser verschlossen waren.

Als die Karawane durch das Dorf zur Festung zog, war kein Mensch auf den Wegen zu sehen; keiner wagte auch nur im Geringsten durch Fenster oder Türen eine Blick auf diesen Zug zu werfen.

Keiner der Menschen ahnte, wie sich das Leben im Dorf verändern würde. Denn der neue Herr der Festung sandte Kunde durch das Land bis zum Meer um Handwerker und Diener. Doch auch das Dorf hatte Anteil an diesem Wunder, wurde doch Nahrung gebraucht und Wohnung für die Menschen, die da kamen. So wurden Häuser gebaut oder erweitert, und der Herr zahlte mit blankem Silber.

Und als eines Nachts ein Heerbann mit Fackeln durch das Dorf zog und in der geheimnisvollen Höhle verschwand, war allen Menschen klar, dass der neue Herr der Festung ein Zauberer war. Die Kunde von diesem Zauberer, seinem unermesslichen Reichtum und seinem Heer aus Geistern machte die Runde durch alle Lande nördlich und östlich des Sandmeeres.

Und kam als Kunde auch an den Hof des suleimanischen Herrschers und zu einem seiner besten Spione.

Bild: Festung der Oase Qarat Umm es-Sugheir,
https://de.wikivoyage.org/wiki/Datei:UmmSugheirHill.jpg